Eine weiche Hand ist eine Gabe Gottes, lautet eine alte Weisheit. Doch welche Kräfte wirken tatsächlich zwischen Reiterhand und Pferdemaul? Wer löst sie aus? Und wie viel Zug am Zügel ist für das Pferd überhaupt zumutbar? Solche Fragen brauchen wissenschaftlich fundierte Antworten. Diese will die Stiftung Pro Pferd im Schulterschluss mit Agroscope und dem Schweizer Tierschutz STS liefern. Ein grösseres und mehrjähriges Projekt soll baldmöglichst angegangen werden.
«Beim Besuch von Turnieren zeigt sich immer wieder, dass es Verstösse gegen die Reglemente und gegen die Bestimmungen der Tierschutzverordnung gibt», sagt Sandra Schaefler, von der Fachstelle Heimtiere und Pferde beim Schweizer Tierschutz STS. Um die Tierwohlaspekte zu verbessern, sucht sie deshalb einen intensiven Austausch mit der Pferdesport-Szene. Beispiele dafür sind die Kampagne «Gutes Reiten» oder der Workshop «Pferdegerechter Sport», der 2019 zusammen mit «Passion» durchgeführt worden ist. Allerdings: Tierschutzrelevante Verstösse zu bestimmen ist nicht einfach. (Zu) vieles beruht auf subjektivem Empfinden. Auch bezüglich Zugkräfte am Zügel wäre ein umfangreicheres Reservoir an wissenschaftlich erhobene Daten hilfreich. Deshalb will sich die Stiftung Pro Pferd zusammen mit dem Schweizer Tierschutz STS und dem Schweizer Nationalgestüt von Agroscope, dem Kompetenzzentrum des Bundes für Equiden, dem Thema annehmen.
Mit «frommer» Hand
Studien aus den Jahren 2011 und 2017 zeigen, dass das Pferd Zugkräfte bis maximal 5 Kilo toleriert. Oftmals aber geht der durch Hilfszügel und spezielle Gebisse verstärkte Zug deutlich über diese mutmassliche Schmerzgrenze hinaus. Das jedenfalls lässt sich vermuten, wenn Pferde auf einen offensichtlich starken Zug am Zügel mit Kopf- oder Schweifschlagen reagieren. Damit steht die Realität im Widerspruch zur Lehre. Die auf die Zügel wirkende Kraft dürfe nur wenige Gramm betragen, wird einem ja meist schon in der allerersten Reitstunde gesagt. Dies in Anlehnung an die alte Weisheit, dass eine weiche Hand eine Gabe Gottes ist. Entsprechend betonte beispielsweise auch Hans Moser, 1948 in London im Sattel von Hummer Schweizer Olympiasieger in der Dressur, immer wieder die Wichtigkeit einer «frommen» Hand.
Wie es tatsächlich um die Zugkräfte am Zügel steht, beschäftigt Kathrin Kienapfel-Henseleit. Die Forscherin arbeitet als Postdoc am Nationalgestüt in Avenches in der von Iris Bachmann geführten Forschungsgruppe Equiden von Agroscope. In einer im Juni 2019 an der Ruhr-Universität in Bochum veröffentlichen Studie haben Kienapfel und ihre Mitarbeiterin Lara Piccolo untersucht, wie viel Zügelzug von der Reiterin oder dem Reiter und wieviel vom Pferd ausgeht. Die von ihnen gemessenen Unterschiede sind frappant. Konnten die Pferde selbst entscheiden, wählten sie im Vergleich mit Reiterin oder Reiter eine geradezu federleichte Zügelverbindung. Im Mittelwert betrugen die gemessenen Zugkräfte 0,75 kg pro Zügel ohne Reiterin, aber schon beachtliche 2,4 kg mit Reiter.
Für die Messung wurden 13 Pferde longiert oder auf dem Longierplatz freilaufen gelassen. Dabei waren sie so ausgebunden, dass sich die Stirnlinie an oder knapp vor der Senkrechten befand. Gemessen wurden die Zügelkräfte am Ausbinder im Schritt, Trab und Galopp. Darauf wurden die Pferde in gleicher Haltung auf der Volte geritten. Der aus den Messergebnissen errechnete Anteil von Pferd und Reiterin oder Reiter an den Zügelkräften beträgt im Durchschnitt 37 Prozent (Pferd) zu 63 Prozent (Reiter). Dieses Resultat zeigt den grossen Einfluss, den wir Reiterinnen und Reiter auf die Zugkräfte haben. Doch damit nicht genug. Das Diagramm der Messungen zeigt überdies ein starkes Auf und Ab der Zugkräfte (siehe oben- stehende Grafik) – mehr steiles Alpenpanorama als flacher Meereshorizont. Deshalb sagt Kienapfel zur steten Anlehnung: «Wissenschaftlich betrachtet ist sie fast nicht umsetzbar.» Die pro Gangart unterschiedlichen Nickbewegungen des Pferdes wie die Oberkörper- und Armbewegungen von Reiterin oder Reiter verhindern sie.
Kein steter, sondern ein möglichst geringer Zug auf den Zügel muss gemäss der Forscherin das Ziel sein. Je feiner desto besser. Womit wir wieder bei den «frommen» Händen von Hans Moser sind. Und bei der Frage, wie eine gute Zügelhilfe aussieht. Kienapfel spricht von Konditionierung mit negativer Verstärkung. Der Zug wird solange aufrechterhalten, bis das Pferd nachgibt. Sobald es dies tut und damit die gewünschte Reaktion zeigt, muss der Zug am Zügel aber nachlassen. In der Ausbildung wird deshalb traditionell gelehrt, von der halben, zur Viertel-, zur Achtelparade zu gehen. Merkt das Pferd, dass es beim Nachgeben weniger Druck auf Laden und Zunge bekommt, ist man dem Ziel der feinen Anlehnung bereits näher. Bei diesem Annehmen und Nachgeben sind Zeitpunkt und Dosierung relevant, ja sogar entscheidend.
Maximal- statt Mittelwert
Zu untersuchen gibt es rund um die Zügelkräfte noch viel. Nicht nur deshalb, weil bloss wenige Daten zur Verfügung stehen und es unzählige zusätzliche Einflussfaktoren (Gebiss, Zäumung, reiterliches Niveau, etc.) gibt. Auch ist die Qualität der Daten kritisch zu hinterfragen. So werden Mittelwerte ausgewertet, obschon die Analyse der Maximalwerte entscheidend ist. «Bei einem Schlag ins Gesicht verursacht ja auch die höchste Kraft beim Aufschlag das blaue Auge und nicht der Mittelwert vom Ausholen bis zum Treffer und zurück», zieht Kienapfel einen etwas martialischen aber überaus anschaulichen Vergleich. Allein, die Spitzenwerte direkt am Pferdemaul zu messen, also dort wo sie für das Pferd spürbar sind, ist ein technisch schwieriges Unterfangen. Zumal am Zügel und Ausbinder verwendete Geräte bisher bloss bis 20 kg messen können.
Die bestehenden Sensoren gilt es also zu verbessern, den Ist-Zustand der vorhandenen Zügelkräfte grossflächig zu erheben. Zudem ist eine Sensibilisierung für die am Zügel wirkenden Zugkräfte auf breiter Basis notwendig. Wird dank dem Schulterschluss von Agroscope, Schweizer Tierschutz STS und Stiftung Pro Pferd all dies erreicht, ist für das Wohlergehen der Pferde ein weiterer grosser Schritt getan.
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